Performativität und Praxis

Die gegenwärtigen Diskussionen in der Sprach-, der Sozial- und der Politischen Philosophie, der Ästhetik und der Kulturwissenschaft scheiden sich an den Begriffen der "Performativität" und "Praxis". Beide beziehen sich auf unterschiedliche und teilweise gegenläufige theoretische Traditionen. Die klassische, auf die Antike Handlungstheorie (Platon, Aristoteles) zurückgehende Trennung zwischen Praxis und Poiesis, also zwischen Handeln und Herstellen bzw. Instrumentalität und Interaktivität, dominiert sowohl den amerikanischen Pragmatismus und die daran anknüpfenden Zeichen- Gesellschafts- und Kommunikationstheorien als auch die auf deren Grundlage formulierten Auffassungen von Gerechtigkeit und Demokratie. Eine besondere Akzentuierung hat der Praxis- bzw. Handlungsbegriff in der Verständigungsphilosophie von Jürgen Habermas erfahren: Die seine Theorie des Kommunikativen Handelns leitende Unterscheidung zwischen strategischen und konsensorientierten Handlungen, ermöglichte eine Kritik des Technischen, Ökonomischen und des Sozialen Konstruktivismus, die für die Auseinandersetzung mit systemtheoretischen Ansätzen (Luhmann) fruchtbar wurde. Darüber hinaus ließ sich an sie nochmals eine Begründung von Aufklärung und Emanzipation anschließen, die beanspruchte, Aporien der radikalen Vernunftkritik der Frankfurter Schule (Adorno/Horkheimer) aber auch der poststrukturalistischen Philosophie (Lyotard, Foucault, Derrida) zu überwinden.

Allerdings scheint der diesen Ansätzen zugrundeliegende pragmatische Handlungsbegriff, sei er instrumentell, strategisch oder kommunikativ verstanden, theoretisch nicht mehr problematisierte Vorstellungen zu konnotieren: Handlungen werden demnach intentional, d.h. willentlich und frei vollzogen. Vorausgesetzt ist die Idee des autonomen, emanzipierten Subjekts, sei es einsam oder monologisch verfaßt oder immer schon mit anderen in eine ursprüngliche Dialogizität gestellt. Dagegen hat sich in den letzten Jahrzehnten der Fokus der Debatten auf die Begriffe des „Performativen“ bzw. des „Ereignisses“ verlagert und die Akzente verschoben. Ursprünglich ebenfalls im Rahmen von Sprachphilosophie in Anknüpfung an die Sprechaktheorien von Austin und Searle angesiedelt und dort sprachliche Akte und Vollzüge gegen Bedeutungsprozesse ausspielend, haben sie inzwischen eine Ausweitung auf die Kunst, cultural performances wie Ritus, Theater und Fest sowie auf „Setzung“ und Dekonstruktion erfahren, die sie in unmittelbare Konkurrenz zum klassischen Handlungsbegriff bringen. Das gilt vor allem für die Beziehung zwischen „Ereignis“ und „Wiederholung“, die in poststrukturalistischen Theorieansätzen, vor allem bei Deleuze, Butler und Derrida, eine maßgebliche Rolle spielen. Insbesondere erlaubt der Begriff des „Ereignisses“ einen Blick auf nichtintentionale Elemente des sprachlichen, sozialen oder ästhetischen Geschehens, die von Ansätzen pragmatisticher Herkunft übergangen werden.

Die Tagung sucht dieses offene Feld zwischen Handlung, Instrumentalität und Performanz einerseits, Intentionalität und Nichtintentionalität des Praktischen sowie Spontaneität, Freiheit und Inszenierung auszuloten. Sie will dabei eine Brücke schlagen zwischen (i) pragmatischen Handlungstheorien, (ii) sprachanalytischen Performanzkonzepten, (iii) poststrukturalistischen bzw. dekonstruktiven Theorien sowie (iv) Theorien ästhetischer Performanz und Erfahrung. Sie bewegt sich dabei thematisch am Kreuzungspunkt angloamerikanischer, französischer und deutscher Theorieansätze. Das Spektrum ist so gewählt, daß alle derzeit diskutierten Positionen vertreten sind.

In Zusammerbareit mit dem Institut für Philosophie der Technischen Universität Darmstadt und dem Istituto Italiano per gli Studi Filosofici Neapel

Programm:

Donnerstag 21.3.

12 Uhr Registrierung

13 Uhr Begrüßung

Sektion 1: Pragmatische Aspekte 13.15 Uhr – 15.45 Uhr

Moderation: PD Dr. Dieter Mersch (Darmstadt)

13.15 Uhr – 14.15 Uhr
Prof. Dr. Gerhard Gamm (Darmstadt): Die Dialektik des sozialen Sinns – Von der Schwierigkeit „anders als negativ“ von der Praxis zu reden

14.15 – 14.30 Uhr Pause

14.30 Uhr – 15.30 Uhr
Dr. Georg W. Bertram (Gießen): “Im Anfang war die Tat” – Praktiken als Basis von Sprache und Erkenntnis

15.30 – 15.45 Pause

Sektion 2: Mimesis und Performanz 15.45 Uhr – 18 Uhr

Moderation: Dr. Suzanne Kirkbright (Heidelberg)

15.45 Uhr – 16.45 Uhr
Prof. Dr. Erika Fischer-Lichte (Berlin): Was soll eine Ästhetik des Performativen leisten?

16.45 Uhr – 17 Uhr Pause

17 Uhr – 18 Uhr
Prof. Dr. Simon Critchley (Essex): On Humour – A Nicely Impossible Object


Freitag 22.3.

Sektion 3: Poetologische und rhetorische Aspekte 9.30 Uhr – 12.30 Uhr

Moderation: Dr. Matthias Kroß (Potsdam)

9.30 Uhr – 10.30 Uhr
Dr. Andreas Hetzel (Darmstadt): “Die Rede ist ein großer Bewirker” – Performativität in der antiken Rhetorik

10.30 Uhr – 10.45 Uhr Pause

10.45 Uhr – 11.45 Uhr
Dr. Dietmar Köveker (Frankfurt / Paris): Performativität als Funktion von Sprache und Endlichkeit – zu Lyotards Rhetorik der Gegenwart

11.45 Uhr – 12 Uhr Pause

12 Uhr – 13 Uhr
Prof. Dr. Werner Hamacher (Frankfurt): “Styx” / Übergänge

13 Uhr – 15 Uhr Mittagspause

Sektion 4: Performativität der Sprache 15 Uhr – 18.15 Uhr

Moderation: Prof. Dr. Gerhard Gamm (Darmstadt)

15 Uhr – 16 Uhr
Prof. Dr. Sybille Krämer (Berlin): Verkörperte Sprache – Über die Sprache als Stimme und Schrift

16 Uhr – 16.15 Pause

16.15 Uhr – 17.15 Uhr
Dr. Jens Kertscher (Heidelberg / Darmstadt): Sprachpragmatik und die Kategorie des
Performativen

17.15 Uhr – 17.30 Uhr Pause

17.30 – 18.30 Uhr
Dipl.-Theol. Markus Lilienthal (Darmstadt): „Faktum der Vernunft“ – Zur performativen Struktur der Moralität

19.30 Uhr gemeinsames Abendessen


Samstag 23.3.

Sektion 5: Performanz des Wissens 9.30 Uhr – 13 Uhr

Moderation: Dr. Jens Kertscher (Heidelberg / Darmstadt)

9.30 Uhr – 10.30 Uhr
PD Dr. Alex Demirovic (Frankfurt): Performativität der Gesellschaftstheorie

10.30 Uhr – 10.45 Uhr Pause

10.45 Uhr – 11.45 Uhr
Dr. Matthias Kroß (Potsdam): Performativität in den Naturwissenschaften

11.45 Uhr – 12.00 Uhr Pause

12.00 Uhr – 13.00 Uhr
PD Dr. Dieter Mersch (Darmstadt): Ereignis und Respons – Fragmente einer Theorie des Performativen

Veranstaltungsort: Technische Universität Darmstadt

 

Pressestimme Frankfurter Runschau

Nun sprecht mal schön
Good guys, bad guys: Die Darmstädter Tagung "Performativität und Praxis"
Von Sascha Michel

In der Wissenschaft geht es auch nicht anders zu als auf den Bühnen des Alltags und der Politik: Selbstdarstellung ist gar nicht zu trennen von der Sache, die verhandelt wird. Die gegnerischen bad guys lässt man wortgewaltig wie Dummys gegen die Wand ihrer eigenen Irrtümer fahren; pragmatisch gibt man sich je nach Interessenlage auch mal das Jawort oder lässt sich wieder scheiden. Um an Drittmittel heranzukommen, sind originelle Namensgebungen und pompöse Taufakte strategisch unerlässlich.

Neben dem Austausch der üblichen Argumente war es ironischerweise gerade diese Wissenschaftsperformance, durch die sich die Darmstädter Tagung über "Performativität und Praxis" am Wochenende auszeichnete. Die good guys waren dabei am Institut für Philosophie der TU Darmstadt mehr oder weniger unter sich. Entsprechend eindeutig fiel daher der Konsens bei der Identifikation des Gegners aus: Immer wieder wurde vor allem die Theorie von Jürgen Habermas gegen die Wand gefahren.

Der Sache nach ging es um Habermas' Universalpragmatik, die, so der Hauptvorwurf, das Ereignishafte und Kontingente des Performativen einem handlungstheoretisch-teleologischen Konzept von Performativität opfere. Sybille Krämer (Berlin) wies in diesem Zusammenhang etwa auf das Schattendasein hin, den das Performative seit Austin innerhalb der Sprachphilosophie friste. Und Andreas Hetzel (Darmstadt), der das praktische Wissen der antiken Rhetorik um das Singuläre und Unverfügbare des Performativen betonte, sprach gar von einer Geschichte des Vergessens: Verloren gegangen sei, so Hetzel, das Wissen darum, dass etwas am Sagen nicht im Gesagten aufgehe.

Georg W. Bertram (Gießen) schlug für Theorien, denen es genau um diese subversive Differenz zwischen den Akten des Sagens und dem Gehalt des Gesagten geht, den Begriff der Praxisüberschusstheorien vor. Gemeint waren damit nichts anderes als poststrukturalistische Ansätze. Auch wenn während der Tagung immer wieder der Wunsch formuliert wurde, "über Derrida hinaus" zu kommen, war man sich doch einig bei der Nachzeichnung der üblichen Frontverläufe: Searle, Habermas, Brandom auf der gegnerischen, Derrida, Foucault und Butler auf der eigenen Seite.

Auf welche Seite Austin selbst, der eigentliche Begründer der modernen Sprechakttheorie, zu schlagen ist, blieb bis zum Ende der Tagung strittig. Jens Kertscher (Heidelberg/Darmstadt) folgte zwar weitgehend Derridas Austin-Kritik, versuchte Austin aber dadurch aus der Ecke der bad guys herauszuholen, dass er ihn nicht als starken Konventionalisten, sondern eher als Vertreter eines offenen Sprachspielrelativismus verstand.


Rhetorik der Gegnerschaft

Dieter Mersch (Darmstadt) wies hingegen darauf hin, dass Austin zwar zunächst von der Differenz des Performativen und Konstativen ausgegangen sei, mit dem Begriff der Illokution diese Differenz dann aber selbst wieder eingeebnet habe, wodurch Habermas' universalpragmatischer Ansatz allererst möglich geworden sei. Für Mersch also gehörte auch Austin zu den bad guys einer Theorie kommunikativer Rationalität, deren grundsätzlicher Fehler darin bestehe, so Mersch, dass sie die produktive Kraft unserer permanenten, für menschliches Sprechen geradezu konstitutiven performativen Selbstwidersprüche nicht nur völlig ausblende, sondern - gerade umgekehrt - die Vermeidung solcher Widersprüche zum begründungslogisch entscheidenden Argument der eigenen Theorie erkläre.

Die Performanz des Wissens mit ihrer Rhetorik der Gegnerschaft wurde nicht nur im Vollzug des jeweiligen Vortrages in Szene gesetzt, sondern auch eigens thematisiert. Matthias Kroß (Potsdam) zeigte zum Beispiel auf, dass in den science wars zwischen Natur- und Kulturwissenschaften diesseits objektivistischer oder konstruktivistischer Argumentationen immer schon machtvolle Techniken der Selbst- und Fremddarstellung im Spiel sind.

Dass Performativität nicht nur für die Subversion des Gesagten sorgt, sondern im Gegenteil auch ein zentrales Medium sozialer Macht darstellt, wurde in dem Vortrag von Gerhard Gamm (Darmstadt) deutlich. Mit Bourdieu wies Gamm darauf hin, dass die innerhalb der Erziehungspraxis geäußerten performativen Behauptungen über das Kind genau das schaffen, was sie behaupten, und vom Kind schließlich regelrecht einverleibt werden. Die Kontingenz der sozialen Setzungen hinter diesen Behauptungen werde dabei durch die Einverleibung gerade verschleiert.

In der modernen Performance- und Theaterkunst hingegen - das machten die zahlreichen Beispiele im Vortrag von Erika Fischer-Lichte (Berlin) klar - wird Kontingenz nicht verschleiert, sondern produktiv gemacht. Das liegt zum einen an der von Fischer-Lichte betonten Flüchtigkeit der Materialität und Atmosphäre von Aufführungen, zum anderen aber auch daran, dass die unberechenbaren Zuschauerreaktionen in bestimmten Aufführungen, etwa bei Christoph Schlingensief, bewusst mit einbezogen werden.
Eher zufällig wirkten auch die Anekdoten und Exkurse, mit denen Simon Critchley (Essex) die Zuhörer belustigte. Was Critchleys Ausführungen über Humor und Komik mit Performativität zu tun hatten, wurde zwar, abgesehen von dem Hinweis auf die performative Macht rassistischer Witze, nicht recht ersichtlich. Dafür aber erinnerte Critchleys "drifting" selber performativ an das, wovon er unter anderem sprach: an Freuds Verschiebungen und Sternes "digressions".

Copyright © Frankfurter Rundschau 2002, Erscheinungsdatum 26.03.2002